Origami-Grosszügigkeit

Als Origamistin kann ich sagen: das www ist voll von Origamianleitungen. Dazu habe ich einen ziemlich hohen Stapel Bücher, die ich in meiner verbleibenden Lebenszeit niemals werde durchfalten können. Obwohl jede Papierfalterin ihre eigenen Lieblingsmodelle hat, versuche ich mich immer mal wieder an einer neuen Herausforderung: ein Objekt spricht mich an und ich will es nachfalten, eine Technik interessiert mich und ich entdecke passende Anleitungen.

Wenn ich dranbleibe, die Anleitung verstehe, meine Methode verfeinere und alles ein paar mal wiederhole, habe ich ein ansprechendes Modell vor mir und dabei die entsprechende Technik verinnerlicht. Das ist zwar ziemlich befriedigend, macht für mich aber noch nicht dieses unvergleichliche Origamigefühl aus.

Ich erinnere mich an eine Zugreise quer durch Deutschland. Ich war seit kurzem fasziniert vom Falten, hatte eben die Ausstellung und Workshops von Tomoko Fuse in Dessau besucht und war auf der langen Rückreise. Bei mir im Abteil sass Brigitte, eine ältere Falterin, die ich an einem dieser Workshops kennengelernt hatte. Sie zog aus ihrer Tasche einen Stern, der ihr Lieblingsmodell von Tomoko Fuse sei.

Ich machte grosse Augen, so etwas Schönes hatte ich nie gesehen. Sogleich wusste ich, dass ich üben würde, bis ich so etwas auch irgendwann würde falten können.

„Faltest du mit?“, fragte Brigitte. Meinen Einwand, dass ich das wahrscheinlich nicht könne und dass ich ja noch kaum gefaltet hatte, wischte sie mit einer Handbewegung vom Tisch und legte darauf ein schönes Papier. „Ich zeig‘s dir“.

Geduldig zeigte sie mir Falte für Falte, erklärte, korrigierte und kommentierte, bis ich einen Stern in der Hand hatte, der zwar dem ihren ähnelte, aber etwas schief und irgendwie verknittert wirkte.

Aber es war da, dieses Origamigefühl: ich hatte etwas geschaffen, was Brigitte mir zugetraut hatte, was sie bereit war, mir zu zeigen. Im Stern steckte ihre und meine Geduld, ihre Grosszügigkeit und meine Gewissheit, dass ich dieses und weitere Modelle irgendwann verstehen würde und ebenso schön würde falten können wie Brigitte oder die Meisterin selber.

Als ich Jahre später Brigitte auf einem Treffen wiedersah, bedankte ich mich bei ihr. An genau diese Begegnung erinnerte sie sich nicht. Für sie war es selbstverständlich zu teilen, was ihr selber Freude macht - diese Grosszügigkeit hatte sie in ihrem langen Origamileben selber oft von anderen erfahren.

Wenn ich an diese Begegnung denke, oder wenn ich diesen einen Stern sehe oder falte, bin ich sehr glücklich über meine Origamierfahrungen: grosszügig sein im Geben ebenso wie im Nehmen gehört für mich dazu - und ich werde beschenkt mit diesem unvergleichlichen Origamigefühl.

Fröhliches Weiterfalten,

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